Wie ein Studienort zerstört wurde

Die folgende Geschichte spielt nicht in der DDR. Sie zeugt davon, wie durch bare Frechheit und entschlossenen Dilettantismus vorzüglich aufgestellte Fächer ruiniert und Universitäten beschädigt werden. Ihr Verfasser kann über die Vorgänge berichten, weil er seit kurzem in einem anderen Bundesland als Hessen lehrt.

Die Philipps-Universität Marburg

Erster Akt: Moskauer Redensarten.

Alles begann so: Unser Hochschulpräsident ist relativ frisch im Amt. Er kommt von einer anderen Universität. Eine seiner ersten Auslandsreisen führt ihn zur 250-Jahr-Feier unserer Partneruniversität, der Lomonosov-Universität, nach Moskau. Als Vertreter des Faches Osteuropäische Geschichte und als Beauftragter des Präsidenten für diese Partnerschaft, zugleich Dekan, begleite ich ihn. Als einzigem westeuropäischen Hochschulpräsidenten in der erlauchten Gesellschaft hoher Vertreter von Universitäten rund um den Globus geben die protokollbewussten Russen dem Marburger Präsidenten Volker Nienhaus das Wort. Die Beziehungen der Universitäten sind vorzüglich. Nienhaus verspricht Stabilität und Ausbau.

Zu diesem Zeitpunkt hat er bereits beschlossen, die Osteuropafächer abzuschaffen. Abends beim Bier im Moskauer Hotel erzählt er mir beiläufig, die Universität Gießen wolle ein Osteuropazentrum errichten. „Eine Schnapsidee“, lautet mein Kommentar. Ich erzähle ihm: In Gießen habe man die krankheitsbedingte Abwesenheit des Professors für osteuropäische Geschichte genutzt, die Professur abzusenken, das Bewerbungsverfahren für die Nachfolge liege auf Eis. In Marburg hingegen seien die Osteuropafächer bestens etabliert und anerkannt; dort befinde sich das außeruniversitäre und angesehene Herder-Institut, spezialisiert auf Ostmitteleuropa; es ist personell und fachlich eng mit der Universität Marburg verbunden. Jeder, der nur einen blassen Schimmer von den erstklassigen Strukturen der Osteuropawissenschaften in Marburg habe, würde mir zustimmen, erkläre ich dem Präsidenten. Er verspricht, mich auf dem Laufenden zu halten.

Zweiter Akt: Marburger Kabalen.

Wenige Wochen später lese ich in der Lokalzeitung: In Gießen wird ein Osteuropazentrum errichtet, in Marburg ein Orientzentrum und in Frankfurt ein Ostasienzentrum. Dass es sich um ein landesweites Konzept handelt, hatte mir Nienhaus nicht verraten. Ich rufe ihn an und bitte um Kommentar. Das sei eine „Ente“, sagt er. Ich frage nach, ob sich die Zeitung geirrt habe. Der Präsident beteuert, es handele sich um eine Falschmeldung, er würde sich für mein Fach einsetzen. Misstrauisch geworden, rufe ich im Ministerium an. Ich spreche mit Dr. Bernhard, der für die Zentrenbildung zuständig ist.

Ob es stimme, dass die Zentren wie zu lesen errichtet werden sollen. Dr. Bernhard bejaht. Ob der Präsident davon wisse. „Selbstverständlich“. Ob er mir die Gründe nennen könne, die Gießen für das Osteuropazentrum prädestinieren, wo doch bekannt sei, dass in Hessen und bundesweit Marburg ein besonders guter Ort dafür sei. Nein, Gründe könne er mir nicht nennen. Ob er fachlichen Rat eingeholt habe. Nein, habe er nicht, aber er wisse wohl, dass die osteuropäische Geschichte in Marburg nicht nur das Alleinstellungsmerkmal, sondern auch Exzellenzcharakter trage. Wenn das Ministerium die Lage so einschätze, sage ich, dann sei es doch sehr fraglich, ob Gießen die richtige Wahl sei. Er würde gerne, so Dr. Bernhard, auf meinen Rat zurückkommen. Von Dr. Bernhard habe ich nie wieder etwas gehört.

Kein Platz für „kleine“ Fächer

In Marburg schlagen unterdessen die Wellen hoch. In einer öffentlichen Anhörung muss sich Präsident Nienhaus von aufgebrachten Studenten, die nicht nach Gießen wollen, anhören, er sei ein Lügner. Ob er sein persönliches wissenschaftliches Interesse am Vorderen Orient kraft seines Amtes und des hessischen Hochschulgesetzes durchzusetzen gedenke, wird er gefragt. Nienhaus, der Spezialist für islamische Wirtschaft ist, weist das als Unterstellung zurück. Die „kleinen“ Fächer könne sich die Universität nicht leisten, sagt Nienhaus. Ob sich die Universität ein gegenwartsbezogenes Orientzentrum, für das es in Marburg bisher weder Studenten noch Bücher noch Professoren gebe, leisten könne? Der Präsident bejaht. Ob er die hervorragenden Beziehungen der Marburger Universität zu polnischen, tschechischen und russischen Partnern aufs Spiel setzen wolle?

Die Abschaffung der Fächer, die sich mit Sprache, Geschichte und Kultur dieser Länder befassen, sei nicht das Ende der Beziehungen, sagt der Präsident. Dass der Begründer der Moskauer Universität, Michail Lomonosov, einst in Marburg studierte, sei „nicht wichtig“. Ob es ihn interessiere, dass eine von ihm eingesetzte Kommission zur Erarbeitung der Stärken der Universität Marburg „Osteuropa“ als einen der Kerne der Universität bezeichnet habe? Und wie solle man in Gießen ordentlich studieren, wenn es dort höchstens ein Zwanzigstel der Bücher gebe? Für das Studium, so der Präsident, brauche es nur eine kleine Handbibliothek. Er wird aufgeklärt, geisteswissenschaftliche Ausbildung funktioniere so nicht. Kurz darauf behauptet er dasselbe noch einmal. Diesmal erläutert eine Studentin, wie es sich verhält. Seitdem sagt er es nicht mehr. Einige Studenten können in Gießen ihre Fächerkombinationen nicht weiterstudieren. Dann sollen sie doch was anderes studieren, rät der Präsident.

Dritter Akt: Der Minister will Ruhe.

Inmitten der Auseinandersetzungen muss ich als Dekan meinen Präsidenten wegen der Fachbereichsfinanzen ansprechen. Das Stichwort Osteuropazentrum bringt ihn plötzlich in Fahrt. Ich sei zu weit gegangen, als ich per Email Kollegen im In- und Ausland gebeten hätte, sich für den Erhalt meines Faches in Marburg einzusetzen. Das werde disziplinarische Konsequenzen haben. Ich hole Rechtsauskunft ein: Die Drohung sei als Einschüchterungsversuch zu werten. Ich frage ihn, wie er es sich vorstelle, Professoren an Universitäten zu versetzen, an denen sie drastisch verschlechterte Lehr- und Forschungsmöglichkeiten vorfinden. Er verweist auf die Entscheidung des Ministeriums. Der Minister jedoch schreibt mir: „Die Organisation der Fächer im Rahmen der Zentrenbildung ist Aufgabe der Universitäten.“

Ob es sinnvoll sei, zusätzlich das gut funktionierende Japanzentrum in Marburg zu zerstören, nur für ein Orientzentrum auf der grünen Wiese, wird er gefragt. Das Japanzentrum werde nicht zerstört, sagt er. Die betroffenen Japanologen und die etwa zweihundert Studenten sehen das ganz anders. Als er in einer öffentlichen Veranstaltung wieder einmal nicht begründen kann, warum die Osteuropafächer nach Gießen sollen, sagt er, man könne ihn ja abwählen, seine Pension sei ihm allemal sicher. Der Senat beschließt, die Osteuropäische Geschichte so lange nicht zu versetzen, bis die Bedingungen in Gießen und Marburg gleich sind. Der Präsident versetzt dennoch. Das Hochschulgesetz erlaubt es.

Keine Stimme für Gießen

Auf dem Höhepunkt der Debatten kommt es zu einem Gespräch mit Wissenschaftsminister Udo Corts (CDU). Corts bittet um Vertraulichkeit. Ich erläutere ihm: Ebenso wie die Verlagerung der Judaistik von Frankfurt nach Marburg ein Fehler war, der schleunigst korrigiert werden musste, so sei das Osteuropazentrum in Gießen hochschulpolitisch sinnlos. Ich nenne alle Gründe und auch die Tatsache, dass die verbliebenen drei Studenten der Osteuropäischen Geschichte in Gießen mittlerweile bei mir in Marburg Examen machten. Darüber hinaus habe sich nicht eine einzige Stimme für Gießen ausgesprochen, aber zahlreiche Stellungnahmen warnten vor der Verlagerung.

Der Minister bleibt hart. Er könne seine Konzepte nicht mit jedem Professor diskutieren. Dann macht er mir einen Vorschlag: „Wir beide“, sagt er, „wir fahren zusammen nach Osteuropa.“ Ich sei doch Spezialist für die Russische Revolution. Dort solle ich Vorträge halten, und dann solle ich mal sehen, wie die Studenten nach Gießen kämen! Ob er auch an die deutschen Studenten denke? Natürlich, die kommen sowieso. Und dann sagt der Minister plötzlich: „Wir sind doch alle eitel. Wir wollen alle Erfolg. Wissen Sie, Wissenschaftsminister will ich eigentlich nicht bleiben, ich habe andere Pläne.“ Danach wird er privat. Das Gespräch über die Zentren strengt ihn an. Minister Corts sagt zu, ich könne in Marburg bleiben.

Ein Plan von 1995

Ein zweites Treffen, anwesend ist auch Frau Völker, Abteilungsleiterin. Anlässlich meines Rufes nach Marburg hatte ich dem Ministerium, vertreten seinerzeit durch Frau Völker, vorgeschlagen, dort ein Osteuropazentrum zu gründen. Leider stieß das auf wohlwollendes Desinteresse. Wenn schon der Präsident und der Minister nicht die Gründe für Gießen nennen können, dann vielleicht Frau Völker? Es gebe einen Plan von 1995, aber was darin steht, will sie nicht genauer mitteilen. Der Minister ist jovial, er ruft den Gießener Hochschulpräsidenten an und diktiert ihm, mich dort bestens auszustatten. Ich erläutere noch einmal, warum Gießen eine Fehlentscheidung ist und erinnere ihn an sein Wort. Am Ende stimmt er im Beisein von Frau Völker zu, ich könne in Marburg bleiben. Aber er möchte Ruhe in dieser Sache.

Die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) findet in Marburg statt. Vertreter der Marburger Universität sind keine gekommen. Die Präsidentin der DGO, Rita Süssmuth, kritisiert die Zentrenbildung. Während der Debatte bitte ich Staatssekretär Leonhard, den anwesenden Kollegen, die zu einem großen Teil gegen die Verlagerung protestiert hätten, zu erläutern, warum das Ministerium nicht auf die Fachleute hören wolle. Das Ministerium höre auch bei anderen Gelegenheiten nicht auf Fachleute, lautet die Antwort.

Vierter Akt: Die Leere zu Gießen.

Präsident Nienhaus versetzt meine Studenten und mich nach Gießen. Der Minister zieht sein Wort zurück: „Ich hatte Ihnen den Vorschlag gemacht, dass Sie für den Fall, dass Sie die Zentrenbildung unterstützen und auch öffentlich mittragen, Sie Ihre Professur in Marburg oder Gießen zunächst wahrnehmen könnten. Bedauerlicherweise haben Sie bis heute massiv, insbesondere öffentlich — zuletzt anlässlich der Veranstaltung mit Frau Professor Süßmuth — die Zentrenbildung kritisiert und nicht auf der Basis unseres Gesprächsverlaufs agiert. Ihr Verbleib in Marburg macht deswegen keinen Sinn mehr.“ Diesen Satz muss man zweimal lesen, Art. 5 des Grundgesetzes nur einmal.

Der Gießener Hochschulpräsident freut sich über das Osteuropazentrum. Um zu beweisen, dass Gießen der richtige Ort ist, hat er zwei Gutachten eingeholt. Sie sind von solcher Qualität, dass er es vorzieht, sie nie zu verwenden. Da die sprachwissenschaftliche Turkologie und die Slawistik die wichtigsten Fächer des Osteuropazentrums sind, sieht das interdisziplinäre Konzept des Zentrums ziemlich einfach aus: die slawisch-türkischen Beziehungen. Jeder, der etwas von Osteuropa versteht, hält das für ein Randgebiet.

Abstimmung mit den Füßen

Studenten und Dozenten der osteuropäischen Geschichte müssen nach Marburg in die Bibliotheken fahren. Ein DFG-Forschungsprojekt muss in Marburg bleiben. In Gießen könnten die Mitarbeiter nur Däumchen drehen. Die vorzügliche Marburger Bibliothek der slawischen Philologie hat man nach Gießen transportiert. Dort steht sie seit über einem Jahr in Kartons und ist nicht benutzbar. Das Herder-Institut muss nun mit einer Universität kooperieren, mit der es zuvor buchstäblich nichts zu tun hatte. Heute gibt es vier Professoren der osteuropäischen Geschichte in Gießen. Die Zahl der Studenten übersteigt die ihre nicht. Im Vergleich dazu lehrte ich in Marburg ein Massenfach.

Die Marburger Studenten und ihr Professor sind gegangen: Abstimmung mit den Füßen. Die neuen Professoren sind befristet eingestellt. Man soll sie nach Marburg versetzen: Ich wüsste von keinem Professor, der sich gegen eine drastische Verbesserung der Arbeitsbedingungen wehren würde. Ein Semester nur musste ich in Gießen lehren. Als ich mich öffentlich kritisch zum Zentrum äußere, verbietet der Dienstherr weitere Stellungnahmen. Die Direktorin des Zentrums darf im selben Artikel das Blaue vom Himmel erzählen, ohne Maulkorb.

Und das Orientzentrum in Marburg? Da ist die Lage noch trostloser. Man könnte es „Nienhaus Interdisciplinary Center for Hebrew and Transarabian Studies“ nennen. Aber wer will für tausend Euro Studiengebühren im Jahr im Marburger Nichts, das heißt nichts studieren?

Stefan Plaggenborg lehrt seit Oktober Osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum.

Veröffentlicht in „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 20.11.2007, Nr. 270. S. 39 [Originalfassung]