Offener Brief der Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften an den Präsidenten: Einige Überlegungen

Seit der Veröffentlichung unseres berüchtigten „Briefes der Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften“ ist genug Zeit vergangen, um den polemischen Schaum abfließen zu lassen und tiefgreifende Probleme zu offenbaren. Lassen wir die Polemik beiseite und denken wir nach.

Ich beginne mit einigen oberflächlichen (aber nicht unbedeutenden) Betrachtungen. Wenn ich polemische Artikel zu diesem Thema in verschiedenen Medien (siehe z.B.[7]), Zwischenrufe in Foren usw. lese, wird mir klar, dass die sprichwörtliche „Ich habe Pasternak nicht gelesen, muss aber sagen“-Tradition durchaus noch am Leben ist. Offenbar haben sehr wenige sich die Mühe gemacht, den Brief zu lesen. Wozu auch? Es ist genug, dass „irgendwelche Mitglieder der Akademie die orthodoxe Kirche zu kritisieren wagen“. Das berechtigt jeden Gegenangriff. Ein 23-jahriger Aktivist der „Kremlkomsomol“-Bewegung, z.B., dessen Verdienste, gelinde gesagt, unbekannt sind, darf Wissenschaftler beleidigen, über dessen Erfolge und Entdeckungen ich mich hier nicht weiter auslassen will. Da denkt man doch gleich: Wenn man schon mit Akademiemitgliedern und Nobelpreisträgern so umgehen kann, n was bedeutet in heutigem Russland ein bloßer Dozent, ein Doktor? Wie der obengenannte junge Journalist[1] meinte, „uns geht’s hier nicht um Nanotechnologien“…

Zugleich werden noch andere triste Sachen klar. Hier ist ein Zitat aus einem Artikel des Berichterstatters der Zeitschrift „Iswestija“ Boris Klin[2]:

„Sehr geehrte Mitglieder der Akademie erkennen Theologie nicht als eine wissenschaftliche Disziplin an. „Jede wissenschaftliche Disziplin operiert mit Tatsachen, Logik, Beweisen, nicht mit Glauben“, – schreiben sie. So steht es wohl mit exakten Wissenschaften. Doch denken wir an Geschichte oder Gesellschaftskunde? Wie operiert man mit „Tatsachen und Beweisen“ in diesen Bereichen? Jede historische Monographie enthält unbeweisbare Vermutungen, Hypothesen. Theologie steht ihnen nicht nach: Es scheint, die Herren Naturwissenschaftler wollen aber allen Geisteswissenschaften das Recht, sich Wissenschaften zu nennen, absprechen“.

Ähnliches wird in vielen Artikeln wiederholt. Hier ist der auffallendste Ausspruch[8]:

„Schließlich sollte man die Chimäre der so genannten wissenschaftlichen Weltanschauung bloßstellen (gut gesagt! Vor allem, ehrlich. Genau richtig für jene, die meinen, dass die Mitglieder der Akademie ganz grundlos um die Klerikalisierung des Landes dick auftragen. – Bemerkung des Autors). Nur die Naturwissenschaften in einigen Aspekten und zu einem gewissen Grad Geschichtswissenschaft können sich auf Tatsachen berufen. Gleichzeitig kann Wissenschaft mit hundertprozentiger faktologischer Überzeugungskraft die Entstehung der Welt nicht erklären. Sie rätselt bloß über die wichtigsten Elemente der Weltexistenz“, – meint Wsewolod Tschaplin. Er erwähnt, dass Geschichte, unvermeidlich mit Interpretierung von Tatsachen und mit Theorien der Gesellschaftsentwicklung verbundene, „keine hundertprozentig objektive wissenschaftliche Disziplin ist oder sein kann“; Philosophie, Soziologie, Gesellschaftskunde und Psychologie seien Bereiche, „wo keine weltanschauliche Position allgemeingültig und unumstößlich sein kann“.

Diese Vorstellung hat sich also gut eingenistet: Geisteswissenschaften seien eine Art Brei, eine Quassel-Quasiwissenschaft, die keine „Tatsachen, Logik, Beweise“ braucht. Ich hoffte, dass „Iswestija“ daraufhin mit empörten Briefen von Geschichtsforschern, Philosophen, Philologen überhäuft würde. Doch diese zeigen christliche Demut und halten die andere Wange hin. So muss ich, Physiker, für sie eintreten. Ich habe die Ehre, z.B. Professor Jurij Iwanowitsch Semenow zu kennen (siehe[6]), deren Arbeiten mehrfach in der Zeitschrift „Skepsis“ veröffentlicht wurden, und will bestätigen, dass die Vertreter der echten Geisteswissenschaften eben mit „Tatsachen, Logik, Beweisen“ operieren, und in diesem Sinn sich von Physikern oder Chemikern nicht unterscheiden. Sonst würden Studenten sie auspfeifen, die jetzt in den Vorlesungen in dem MIPT und anderer Hochschulen gebannt lauschen, und anschließen dem Lektor scharenweise durch den Korridor nachrennen und Fragen stellen. Die Autorität, die gute Geisteswissenschaftler selbst an der physikalisch-technischer Fakultät besitzen, kann man nur mit hundertprozentig wissenschaftlicher Arbeit verdienen.

Bezüglich aller Wissenschaften herrschen im Land, nach diesen Zitaten zu urteilen, deprimierende Vorstellungen. Keine Wissenschaft (auch eine Naturwissenschaft) weiß alles, man muss immer zweifeln und suchen. Im Unterschied zu Pseudowissenschaften, die alles wissen und keinen einzigen Fehler begehen, können sich echte Wissenschaftler irren, und anschließend die Fehler zugeben und so weiterkommen. Es gibt keine „allgemeingültige und unumstößliche Position“. Doch vorhandene Positionen werden in der Wissenschaft üblicherweise argumentiert bestritten. Gefühle und persönliche Feindseligkeit zum Opponenten zählen dabei nicht als Argumente.

Dabei ist die Reaktion der „orthodoxen Öffentlichkeit“ auf den Brief bisweilen so aggressiv, dass man noch mal den Brief möglichst unvoreingenommen lesen will, weil man sich fragt: warum solche Erbitterung? Ich las ihn also wieder. Die Mitglieder der Akademie betonen, dass sie weder gegen den Glauben noch gegen die Kirche (was, genau genommen, nicht das Gleiche ist) auftreten. Es gibt streitbare Thesen, doch der Ton ist ruhig, korrekt, wohlwollend. „Jupiter, ärgerst du dich?...“, - denke ich. Selbst jemand, der mit dem orthodoxen Christentum sympathisiert, ist verdutzt: Will man solche „Kultur“ wirklich Kindern anerziehen?

Kaum symphatischer sind aber auch die höflicheren Gegner der Akademiemitglieder – in der Regel leitende Funktionäre der russischen orthodoxen Kirche[4],[8]. Sie klingen recht weltlich: wie Manager, Geschäftsmänner. Es geht um Marketing, um PR, um Image-Bildung, um Beziehungen mit dem Staat, um Finanzierung. Ums Budget. Möglichkeiten und Gefahren werden analysiert. Just business, nothing personal...

Das alles sind nur meine Beobachtungen „um den Brief herum“. Und wenn man den Brief selbst liest… es mag paradox klingen, aber: diesen Brief hätten schon lange die Gläubigen selbst schreiben müssen; diejenigen, die um das Schicksal des orthodoxen Christentums in Russland besorgt sind! Ich will es begründen.

Den Anstoß zu der ganzen Diskussion gab der Streit um die Einführung des Pflichtfachs „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ (GOK) an russischen Schulen. Ein wichtiger Gedanke dazu ist mir nur in einem Artikel des Wissenschaftskorrespondenten der „Iswestija“ S. Leskow[3] begegnet: Stellen Sie sich vor, GOK ist eingeführt. Obligatorisch. Mit allem, was dazugehört: schlechten Noten, Nichtversetzungsgefahr, schimpfenden Eltern und, oh Schreck, Staatsprüfung. Man muss doch nie etwas von Kinderpsychologie mit ihrem Widerspruchsgeist gehört haben, nie „Tom Sawyer“ oder „Pippi Langstrumpf“ gelesen haben, um für die obligatorische Einführung von GOK an modernen russischen Schulen zu plädieren. Das wird eine solche atheistische Impfung, dass man später keine anti-christliche Propaganda mehr braucht... Beachtenswert ist, dass gerade diese psychologisch unbewanderten GOK-Befürworter den Wissenschaftlern Herzlosigkeit und mangelnde seelischen Feinheit vorwerfen[5].

Was das russische Schulwesen ganz bestimmt braucht ist ein säkularer Kurs in der Geschichte der Weltreligionen, und auch in atheistischem und agnostischem Denken. Eine vielleicht kurze, aber fundierte Aufklärung. Ich bin im Kaukasus geboren und aufgewachsen, und ich erschauere, wenn ich höre, was zum Beispiel die Einwohner Zentralrußlands über den Islam denken – und oft gilt das auch für die Vertreter nominell moslemischer Völker. Und wenn Leute zumindest die Grundlagen entsprechenden Wissens hätten, wäre es für pragmatische Schurken schwieriger, sie aufeinander zu hetzen. Vielleicht liegt hier die Wurzel des Übels?

Zweitens ist im „Akademikerbrief“ die Rede vom Prinzip „dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“. Davon, dass man Flugzeuge und Atomsprengköpfe nicht mit Weihwasser besprengt, sondern angemessen gewartet werden sollten. Es ist merkwürdig, dass die Gläubigen und Priester nicht selbst gegen eine solche Profanisierung des Glaubens eintreten. Und wo sie doch dagegen eintreten, bekommen sie kein Verständnis seitens der Kirchenoberen.

In diesem Zusammenhang sollte man sich noch ein Argument in Erinnerung rufen, dass in solchen Artikeln oft vorgebracht wird: „Aber viele herausragende Wissenschaftler, auch Physiker und Mathematiker, waren Gläubige!“ Allerdings, und ich kenne solche Wissenschaftler – sie sind wunderbare Menschen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass unser Mathematikprofessor, wenn ihm bei der Beweisführung für ein Theorem die rationalen Argumente ausgehen, das Loch in der Argumentation durch ein Bibelzitat stopft. Der Glaube hat diese Menschen unter anderem einem anständigen Umgang mit ihrem Beruf gelehrt, mit dem der erwähnte Kniff nicht vereinbar ist.

Und noch ein Argument, dass oft in Gesprächen zu diesem Thema gebracht wird: „In unserer schwierigen Zeit, wenn die Leute verloren sind und keine moralischen Leitbilder haben, muss die Stimme der Kirche hörbar sein, die Stimme der geistigen Führung“. Noch eine paradoxe Meinung von mir: Ich bin nicht nur nicht dagegen – ich würde sehr gerne die Stimme der Kirche zu einer ganzen Reihe von aktuellen Fragen hören, die Russen heute bewegt. Zum Beispiel die Streiks, die aktuell bei russischen Firmen stattfinden – ich als Ökonom habe natürlich meine Meinung dazu, aber was denken die Kirchenoberen darüber? Und was denken sie über die internationale Lage, über die Beziehungen Russlands mit seinen Nachbarn und anderen Ländern? Über die Emigration?

Es gibt viele solche Probleme in Russland, die nicht nur eine nüchterne wissenschaftliche Analyse erfordern, sondern auch eine moralisch-ethische Bewertung. Das gilt für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die nach dem Maßstab entwickelter Länder völlig inakzeptabel ist. Das gilt für die extrem hohe Sterblichkeit, die nicht nur aus medizinischen Faktoren erklärt werden kann, und höchstwahrscheinlich von sozialen Gründen verursacht wird. Das gilt für das Phänomen der selbsterzeugenden Armut. Nur habe ich darüber nicht von der Kirchenführung gehört (obwohl sie sagt, dass „die Kirche sich mit allem beschäftigt und beschäftigen wird, was die Menschen bewegt“[8]), sondern vom leider kürzlich verstorbenen Dmitri Lvov, dem Sekretär der wirtschaftlichen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften. Er, ein Wirtschaftswissenschaftler, könnte dem gängigen Stereotyp nach von moralischen Bewertungen absehen. Aber er war ein MENSCH und ein BÜRGER.

Natürlich wird in Predigten regelmäßig erwähnt, dass man nicht trinken, rauchen und fluchen soll. Wer will da widersprechen… Aber wenn man Anspruch auf die moralische Führerschaft der Nation hat, braucht man eine POSITION zu den aktuellen gesellschaftlichen Fragen, keine Zureden von der Art „Seid nett zueinander“. Und eine eigene Position haben merkwürdigerweise eher Wissenschaftler (die angeblich nicht wissen, was Moral ist), und nicht die Kirche. Obwohl auch das Zureden manchmal nicht fehl am Platze wäre. Es sollte zum Beispiel mal ein Pfarrer zu Leuten hinausgehen, die im nationalistischen Rausch ihren Verstand verlieren, und sie vom Pogrom abhalten. Und dann namentlich die nationalistischen Ideologen verdammen, die von aussen betrachtet ganz respektabel sind und bloß Bücher schreiben…

Überhaupt wird es in unserem Land noch lange Möglichkeiten für bürgerliches Engagement geben. Und wenn zum Beispiel ein Würdenträger der Russischen Orthodoxen Kirche vom Fernsehbildschirm aus die Bierwerbung (die Liste lässt sich fortsetzen) verdammen würde – ich bin mir sicher, die Akademiker würden ihn unterstützen. Aber ich persönlich habe nichts von so etwas gehört (vielleicht schaue ich die falschen Fernsehprogramme?). Das ist verständlich: Es ist viel sicherer, Wissenschaftler zu bekämpfen als Machthabende. Aber wenn man keine unbequemen Fragen stellt – was ist dann der Wert der „Stimme der Kirche“, die wir jetzt hören – konformistisch, in allem der aktuellen politischen Führung zustimmend? Das kann auch „Einiges Russland“. Und, entgegen der verbreiteten Meinung: Soziale Aktivität (auch seitens der Kirche) vergrößert die Wahrscheinlichkeit sozialer Erschütterungen im Land nicht – sie verkleinert sie. Wenn man gesellschaftliche Übel rechtzeitig und öffentlich als solche identifiziert, gibt es eine Möglichkeit, sie therapeutisch statt chirurgisch zu heilen. Dann muss man natürlich aber die Hoffnung auf finanzielle und politische Unterstützung seitens der Urheber dieser Übel aufgeben.

Eine meiner Lieblingserzählungen von A. Kuprin heißt „Anathema“. Wer sie nicht gelesen hat, sollte das tun – Sie werden es nicht bereuen. Die Erzählung ist kurz – nur wenige Seiten und wenige Minuten. Interessant – gibt es in der Russischen Orthodoxen Kirche noch solche Priester wie den Helden dieser Geschichte?

Aus dem Russischen von Alexandra Berlina und Pawel Sirotkin.
[Russische Version]




1. Budaragin M. Denunziation oder Hexenjagd? // Vsgljad. 2007. 36 Juli (http://www.vz.ru/columns/2007/7/26/96786.html)

2. Klein B. Glauben – nicht glauben. // Iswestija. 2007. 24 Juli (http://www.izvestia.ru/comment/article3106492/index.html)

3. Lesskow S. EGE gegen OPK // Iswestija. 2007. 02 August (http://www.izvestia.ru/leskov/article3106813/)

4. Longin, Bischof von Saratov und Vol. Ermattender, aber immer noch kriegerischer Atheismus. // Iswestija. 2007. 30 Juli (http://www.izvestia.ru/comment/article3106665/)

5. Mansow I. Wissenschaftler sollst du nicht belehren. // Vsgljad. 2007. 29 Juli (http://www.vz.ru/columns/2007/7/29/97509.html)

6. Semjonow Juri. Liste der Artikel im „Skepsis“-Magazin (http://www.scepsis.net/authors/id_8.html)

7. Sokolov M. Agnostiker und Atheisten. // Iswestija. 2007. 09 August (http://www.izvestia.ru/sokolov/article3107053/)

8. Tschaplin W. Aufforderungen, die Kirchenaktivitäten auf die Gemeinde zu beschränken sind Überreste der Ideologien politischer Rentner. // „Interfax“-Interview. 2007. 23 Juli (http://www.religio.ru/news/15112.html)