Heute läßt sich wohl niemand mehr durch
Skepsis beeindrucken. Es ist allgemein bekannt, dass alles in unserem
Staat ziemlich schlimm steht, und so wäre es keine Schande, dies nur mit
einer bitteren Miene zu quittieren. Mindestens genau so lange ist es auch
bekannt, dass es so gut wie unmöglich ist, überhaupt irgendwas zu ändern.
Also wäre es auch keine Schande, das Leben in vollen Zügen zu genießen und
allen dabei eine lange Nase zu zeigen. Heute bezeichnet man eine solche
Position als «unabhängig».
Die Grundlage dieser «Unabhängigkeit» ist eine Haltung, zu der man im
Volk «Scheiß drauf» zu sagen pflegt. Oft wird es mit Skepsis verwechselt,
und zwar von Philistern, aber auch von den meisten Intellektuellen. Aber
sie irren sich und irritieren die Anderen. Denn die «Scheiß-Drauf»-Einstellung ist in Wirklichkeit mit dem Konformismus identisch, den sie
auf jeden Fall vermeiden wollen. Im Ergebnis erhalten sie anstatt einer
echten Freiheit nur eine Illusion von Freiheit. Zur Aufdeckung dieser und
anderer Illusionen, die immer zwanghafter werden, gibt es die echte Skepsis.
Und das ist das Hauptprinzip unserer Zeitschrift.
Wir verstehen «Skepsis» im weiteren Sinne des Wortes – als eine Grundlage
für alle Formen des kritischen Rationalismus und vor allem als Grundlage der
Wissenschaft. Jede Theorie, deren Autor irgendetwas Neues zu sagen hat,
beginnt mit der Kritik von Glaubenssätzen, die in der Wissenschaft bzw.
in der Gesellschaft vorherrschen. Diese Form von Skepsis vereinigt alle
Wissenschaftler und Philosophen – Plato und Aristoteles, Newton und
Einstein, Marx und Nietzsche, – selbst wenn sie gegensätzliche
wissenschaftliche oder politische Positionen vertreten. Die «Kritik der
kritischen
Kritik» [1] ist die vornehmste Aufgabe jedes Wissenschaftlers,
auch wenn der marxistische Ursprung dieser Parole bei ihm Anstoß erregen
könnte. Eben diese Aufgabe stellt sich jedem Menschen, der unabhängig denken
will.
Als Vertreter eines solchen kritischen Rationalismus ist man heutzutage
in intellektuellen Kreisen nicht sonderlich beliebt. Und wenn man zwecks
wissenschaftlicher Aufklärung ein Magazin gründet, muss man bereit sein,
eine eher kühle Aufnahme zu finden. Die Idee der Aufklärung ist
merkwürdigerweise mit dem kompromißlosen Ideentotalitarismus des
offiziösen sowjetischen Marxismus
identifiziert. [2]
Der kritische
Rationalismus wird auch nicht gerade zum guten Ton gezählt, denn
neue ideologische Mythen traten in der modernen Gesellschaft an Stelle
der alten. Einige predigen die religiösen Mythen, die Mythen «für die
Armen», unter denen die alte Triade, die noch aus der Zarenzeit stammt,
«Orthodoxie (=Rechtgläubigkeit) – Autokratie – Volkstümlichkeit», ihre
zentrale Stelle erhielt. Andere geben den postmodernen Versionen des
Irrationalismus, derzufolge «anything goes», den Vorzug. Um dieses dichte
Netz der verdummenden Mythen durchzubrechen, braucht man ein geübtes
kritisches Denken – das Denken eines Skeptikers.
***
Wahrscheinlich sind Ihnen, geehrte LeserIn, einige russische
intellektuelle Zeitschriften bereits bekannt. Natürlich stellt
sich nun die Frage: Was unterscheidet «Die Skepsis» von allen ähnlichen
Projekten? Die Antwort ist einfach: es gibt kein anderes vergleichbares
Projekt. Es gibt zwar postmoderne Zeitschriften, wo man viele lustige
intellektuelle Experimente findet, die aber im Vergleich mit den westlichen
Originalen ziemlich gekünstelt ausschauen. Es gibt Zeitschriften, in denen
man über «Sobornost», über «die manichäischen Wurzeln des Bolschewismus»,
über «die philosophischen Entdeckungen der Traditionalisten» und über
andere ebenso bedeutende Sachen spekuliert. Mindestens ein einflussreiches
philosophisches Heft spielt schon seit einigen Jahren damit herum. Und es
gibt einen dritten Typ, dem wir mehr Sympathie entgegenbringen: Wir meinen
«Logos» und «Neue literarische Revue», wo immer wieder kluge analytische
Texte und ausgezeichnete Übersetzungen erscheinen. Aber es ist schade, dass
sie nur für einen kleinen Kreis von Eingeweihten bestimmt sind. Eine ähnliche
Begrenztheit lassen auch einige andere eindrucksvolle Projekte erkennen. Die
wissenschaftlich-aufklärende Nische bleibt fast leer. Nun ist es an der Zeit,
sie zu füllen. Wir sind uns der Schwierigkeit, ja nahezu der
Aussichtslosigkeit dieser Aufgabe bewußt. «Es gibt Epochen, in
denen sich nur sehr Wenige um die Aufklärung kümmern, so dass
ihre Tätigkeiten als eine esoterische Laune erscheint». Das sind
die Worte von M.L. Gasparow, und man kann nichts Deutlicheres auch
über uns und unsere Zeit sagen.
Daraus ergeben sich die Hauptthemen
unserer Zeitschrift: der Versuch, aus der Sackgasse herauszukommen,
in die unsere Geisteswissenschaften geraten sind; die kritische, und
zwar atheistische Sicht auf die religiöse Propaganda und auf die
Entwicklung einer neuen orthodox-nationalistischen Ideologie; die
Analyse der Situation des russischen Bildungssystems – von seiner
Anpassung an die Erwartungen des Marktes bis hin zu seiner
Klerikalisierung. Man darf auch die großen sozialen Veränderungen
nicht ignorieren, die pauschal als «Globalisierung» bezeichnet werden,
sowie die Formen, die diese Prozesse in Russland angenommen haben. Der
Themenbereich scheint fast zu groß zu sein, aber bei Behandlung all
dieser Fragen ist die wissenschaftliche Skepsis äußerst notwendig.
Natürlich ist das Gespräch über alle angeführten Themen ohne harten
polemischen Schlagabtausch unmöglich, und wir selber sind offen für Kritik.
Der Auftritt eines jeden starken – und fairen – Gegners wird begrüßt. Mehr
noch: Wir haben für die Diskussionen eine bestimmte Rubrik «Schlachtfeld»
vorgesehen. Natürlich begrüßen wir nicht nur die Kritik, sondern auch Hilfe
von Gleichgesinnten, die an unserer Seite mitkämpfen wollen.
Und schließlich
das Letzte, aber vielleicht das Wichtigste: Von wem wollen wir,
«die Wenigen», gelesen werden? Zunächst natürlich von den Jugendlichen:
von Abiturienten bis zu jungen Wissenschaftlern. Wir versuchen, die Anzahl
der Skeptiker unter den Jugendlichen zu vergrößern, weil sich unsere Bildung
in einem Zustand befindet, in dem nur die Skeptiker, also die Menschen mit
einer kritischen Denkweise, zu wirklich gebildeten Menschen werden können.
Leider haben die Jugendlichen im heutigen Russland nun wirklich Pech gehabt.
Die noch Mitte des 19. Jh., von Alexander Herzen beschriebene Situation
scheint sich auf eine groteske Weise zu wiederholen:
«Um die Zukunft der Wissenschaft soll man keine Angst haben.
Aber es ist schade um die Generation, die zwar ohne vollkommenes Tageslicht,
aber immerhin bei Morgenröte trotzdem in der Dunkelheit leiden oder mit
Unsinn die Zeit vertreiben muss, nur weil sie dem Osten den Rücken gekehrt
hat. Warum sind die Strebenden dem Wohl der beiden Welten entzogen, der
vergangenen, gestorbenen Welt, die von ihnen manchmal herbeigerufen wird,
aber nur im Leichentuch erscheint, und der gegenwärtigen Welt, die für sie
nicht geboren ist?»
Wir werden wohl die große Rolle, die Herzen vor mehr als hundert Jahren
spielte, nicht übernehmen können. Aber wir werden versuchen, alles zu tun,
was in unserer Kraft steht.
Dieser Text ist das bearbeitete Vorwort zu «Skepsis» Nr. 1 (die letzte
Fassung des Textes ist vom April 2003).